„Wir sind ja nur Menschen“: Interview mit Christian Dingert

19.08.2019
Christian Dingert Schiedsrichter des SWFV

Seit diesem Wochenende werden sie wieder kritisiert, geschmäht und beleidigt: Schiedsrichter. Im Millionenspiel Profifußball bleibt Respekt oft ein rares Gut. Ein Gespräch mit dem pfälzischen Bundesliga- und Fifa-Schiedsrichter Christian Dingert über  Druck, die richtige Körpersprache und wie Sportpsychologen helfen. Ein Interview von Rolf Gauweiler (Quelle: Die Rheinpfalz, Sonntag, 18.08.2019).

 

Wir treffen Christian Dingert in Grünstadt. Der 39-Jährige aus dem westpfälzischen Lebecksmühle kommt viel rum. Champions-League-Qualifikation im südrussischen Krasnodar, DFB-Pokal in Duisburg, Zweite Liga in Hamburg. Dingert hat in Deutschlands Eliteklasse in neun Jahren 122 Spiele geleitet. Vor der neuen Saison, die an diesem Wochenende startet, hat er die Freude am Pfeifen und an raschen Entscheidungen auf dem Spielfeld nicht verloren.

Interview (Quelle: Die Rheinpfalz)

Herr Dingert, Duisburg gegen Fürth ist jetzt nicht die Kracherpartie. Geht man als Schiedsrichter in solch ein Spiel anders rein als in ein Match zwischen Bayern und Dortmund?

Die unscheinbaren Spiele sind manchmal die schwierigeren. Wir gehen in jedes Spiel hochkonzentriert. Man muss generell bei jedem Einsatz seine Leistung abrufen und beweisen. Wenn man öfter einen schlechten Tag hätte, dann wäre der Vertrauensvorschuss bei den Spielern und Offiziellen, den man sich über die Jahre erarbeitet hat, schnell dahin.

Spüren Sie eine größere Belastung, wenn Sie wichtige Spiele pfeifen?

Wie gesagt, wir unterscheiden nicht zwischen wichtig und weniger wichtig. Wir Schiedsrichter glauben vor einem Spiel nicht: Heut’ machen wir keinen Fehler. Das geht nicht. Irgendein Fehler passiert immer – und wenn’s ein Einwurf für die falsche Mannschaft an der Mittellinie ist, aus dem gar keine Konsequenz erwächst und den niemand wahrnimmt. Das steht dann nicht in der Zeitung, das sieht nur der Schiedsrichterbeobachter.

Sie haben am Ende der vorigen Saison das entscheidende Relegationsspiel Union Berlin – VfB Stuttgart gepfiffen. Da geht es ja um Millionen und vielleicht um die Zukunft eines Vereins. Gehen Sie nervöser in wichtige Spiele?

Die spieltaktische Vorbereitung ist die gleiche, wie wenn ich in der Bundesliga zum Beispiel am 19. Spieltag pfeife. Aber in einem Relegationsspiel geht es darum, dass der eine Verein nach oben will und der andere nicht in die tiefere Klasse absteigen will. Eine Fehlentscheidung kann gravierende Auswirkungen haben. Es geht für beide Mannschaften um die nächsten zwölf Monate. Da ist man als Schiedsrichter schon sehr angespannt und vielleicht auch ein bisschen nervöser als sonst. Das kann man nicht abstreiten. Wir sind ja auch nur Menschen. Wenn dann so ein Spiel geräuschlos über die Bühne gegangen ist, dann ist man am Ende froh und auch ein bisschen stolz, dass man die gute Leistung abrufen konnte, die von uns Schiedsrichtern eigentlich immer erwartet wird.

Es kann ja passieren, dass Sie in der ersten Halbzeit eines Spiels eine schlimme Fehlentscheidung treffen. Schauen Sie sich die Szene in der Halbzeitpause nochmals an und hat das Auswirkungen auf Ihre Spielleitung in der zweiten Hälfte?

Mittlerweile haben die Trainer auf der Bank so schnell die Infos, ob zum Beispiel ein Elfmeter berechtigt war, dass wir das in der Pause mitbekommen und die strittige Szene sehen. Das führt aber nicht dazu, dass wir das in der zweiten Halbzeit begradigen. Es gibt nichts Schlimmeres, als einen Fehler durch einen Fehler auszugleichen. Man versucht, das Spiel noch professioneller anzugehen und die zweiten 45 Minuten korrekt hinter sich zu bringen. Zudem ist die Gefahr von offensichtlichen oder, wie Sie es nennen, schlimmen Fehlern durch den Videoassistenten deutlich gemindert worden. Das hilft uns natürlich sehr.

Es wird diskutiert, ob Spielszenen, die per Videobeweis überprüft werden, auf die Großleinwände im Stadion überspielt werden sollen. Denn das Publikum sieht die strittige Szene derzeit nicht. Ihre Meinung dazu?

Ich finde alles, was zur Transparenz beiträgt, grundsätzlich nicht schlecht. Wenn der Schiedsrichter eine Entscheidung revidiert, die erkennbar falsch war, und das Publikum sieht das, dann stört uns das nicht.

Hat der Videobeweis den Schiedsrichter entmündigt? Nimmt der Kollege, der im sogenannten „Bunker“ die Szene überprüft, dem Schiedsrichter auf dem Platz Verantwortung ab und untergräbt seine Autorität?

Nein, so ist es nicht. Man wird ja Schiedsrichter, weil man Entscheidungen gern trifft. Der Schiedsrichter soll auf dem Feld direkt entscheiden, ob Elfmeter oder Rote Karte. Und wenn das dann revidiert wird, weil mir ein offensichtlicher und klarer Fehler unterlaufen ist oder ich eine Szene nicht wahrgenommen habe, habe ich damit keine Probleme. Der Videoassistent ist für uns Schiedsrichter so eine Art Versicherung. Die nimmt man ja auch nicht ständig in Anspruch, sondern nur, wenn es wirklich nötig ist und hilft.

Wenn Sie Ihren heutigen Schiri-Alltag mit Ihren Anfängen vergleichen, als Sie in der Landes- oder Verbandsliga pfiffen: Ist der Unterschied groß zum Millionengeschäft Profifußball?

Natürlich ist da von außen viel mehr Druck drauf. Gleichwohl glaube ich, dass vom Umfeld her die Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter in den unteren Klassen den schwierigeren Job haben.

Schon, aber bei Ihrem Kollegen, der die Viktoria aus Herxheim pfeift, schauen ein paar Hundert Leute zu. Bei Ihnen sind es Millionen.

Unabhängig davon, wie viele zusehen und um wie viel Geld es geht, kann für einen Schiedsrichter jedes Spiel schwierig sein. Es gibt ja auch Relegationsspiele in der Bezirksliga. Da geht es nicht um Geld, aber ums Prestige. Da ist auch viel Druck dabei.

Weil Sie von schwierigen Spielen sprechen: Im Dezember 2016 haben Sie das Spiel Frankfurt – Hoffenheim gepfiffen. Das ist Ihnen total entglitten. Es artete in eine wilde Klopperei aus.

Es war alles andere als ein guter Tag. Es ging einiges schief. Am liebsten wäre ich ausgewechselt worden (lacht). Das war ein Spiel, an das ich zwar ungern zurückdenke, aber aus dem ich im Nachhinein viel lernen konnte, auch von der Einstellung her.

Was haben Sie denn gelernt?

Zu Beginn gab es ein, zwei Fouls, bei denen ich dachte, ich könnte es bei Ermahnungen belassen. Ich hab’ die erste Gelegenheit verpasst, mit einer Karte ein Zeichen zu setzen, die zweite auch, und dann war es so, dass ich keine Möglichkeit mehr hatte, das Spiel in geordnete Bahnen zu lenken. Aber auch aus Spielen, die gut gelaufen sind, kann ich etwas mitnehmen. Oft hat man auch nur Glück. Weil ich im richtigen Moment an der richtigen Stelle stand und einen guten Blickwinkel hatte. Manchmal läuft aber etwas schief, weil man versäumt hat, zu antizipieren, in die richtige Position zu laufen. Dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn man möglicherweise zu einer falschen Entscheidung kommt. Dann muss man analysieren, was ursächlich für den Fehler ist.

Nehmen Sie bei dieser Analyse auch Hilfe von außen in Anspruch?

Wir Schiedsrichter können Sportpsychologen zurate ziehen. Ich selbst mache das zweimal im Jahr, bei Christian Heiss in Landau, das ist ein ganz erfahrener Mann, der auch mit vielen Sportlern aus anderen Sportarten arbeitet, mit Kanuten und Fechtern zum Beispiel. Dort lerne ich, wie ich mit Fehlentscheidungen umgehe, wie ich sie verarbeiten kann. Psychologie ist auch wichtig, weil ich unterschiedliche Spielertypen kennenlerne und das unterschiedliche Trainerverhalten einschätzen kann. Die Regeln im Spiel sind immer gleich, die Typen sind unterschiedlich. Jeden auf seine Art mitzunehmen, darin besteht die Herausforderung.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

Ein ganz entscheidender Punkt ist die Körpersprache. Sie ist wichtiger als verbale Kommunikation. Spieler hören auf dem Platz oft nichts mehr in dem Lärm, aber sie achten genau auf Zeichen des Schiedsrichters. Wenn es zum Beispiel eine Situation kurz vor der Rudelbildung gibt, muss man das mit klarer Körpersprache regeln.

Lesen Sie Spielkritiken oder verfolgen Sie Postings über Sie im Internet?

Beiträge in sozialen Netzwerken blocke ich ab, weil das selten sachliche Kritik ist. Da muss man schon einen gewissen Abstand wahren. Wenn man tagelang sucht, wo etwas über einen stehen könnte, dann ist das nicht zielführend. Spielberichte können interessant sein, weil sie Szenen aus einer Sicht beleuchten, auf die man mit der Schiedsrichterbrille gar nicht gekommen wäre. Wenn das sachlich ist, dann ist das wunderbar und man kann das gut analysieren.

Lieben Sie es, im Scheinwerferlicht des Interesses zu stehen und eine öffentliche Figur zu sein? Oder ist das lästig?

Wir Schiedsrichter sind froh, wenn wir nicht im Mittelpunkt stehen. Wenn wir in der Sportschau nicht erwähnt werden, dann ist das ein gutes Zeichen. Wenn wir erwähnt werden, dann ist das meist, weil wir eine Fehlentscheidung getroffen haben. Negative Schlagzeilen, das wissen Sie ja besser, verkaufen sich gut. Aber wir Schiedsrichter sind Dienstleister des Fußballs. Wir stehen mit den Spielern auf dem Feld und schauen, dass das Spiel in geordneten Bahnen zu Ende geht. Aber seit 2010, seit ich in der Bundesliga pfeife, merke ich schon, dass die Schiedsrichter medial interessanter sind. Gut, das ist jetzt die heutige Zeit. Ob man’s will oder nicht, man muss damit klarkommen.

Der Spaß ist immer noch derselbe wie vor 20 Jahren in der Landesliga? Ja. Es kribbelt immer noch, der Spaß steht im Vordergrund, auch wenn’s mal stressig wird, vor allem terminlich.

Herr Dingert, mit 39 Jahren sind Sie noch ein junger Schiedsrichter, Sie können nach den derzeitigen Regeln international noch sechs Jahre und in der Bundesliga noch acht Jahre Spiele leiten. Haben Sie ein Wunschspiel, das Sie gerne pfeifen würden?

Da ich vom Naturell her eher der realistische und bodenständige Typ bin, will ich jetzt keine Luftschlösser bauen. Aber ein Ziel ist sicherlich, irgendwann mal das Pokalendspiel zu pfeifen. Für diesen Wunsch gilt es, sich in der Bundesliga zu beweisen. Konstanz ist sehr wichtig. Es bringt nichts, acht Spiele super zu leiten und zwischendurch drei Spiele in den Sand zu setzen. Denn noch mal: Die unscheinbaren Spiele sind oft schwieriger zu leiten als Topspiele. Das ist einfach so.